Artisten, Clowns und Zauberer werden beneidet oder geschmäht, denn sie machen sich wenig aus bürgerlichen Verpflichtungen. Als Lebenskünstler fühlen sie sich unabhängig und sind auf demonstrative Weise mit ihren Lebensumständen einverstanden. Wie treffend oder falsch diese Charakteristik auch sein mag, sie vermittelt ein ebenso gängiges wie zwiespältiges Bild, nämlich das Schreck- und Wunschbild des Bürgers. Zwischen ihnen und diesen Lebenskünstlern herrscht keine Gleichgültigkeit.
In den hier exemplarisch ausgewählten Texten wurden unterschiedliche Aspekte literarischer Imaginationen von Zirkus und Artisten analysiert. Bei aller Varianz und der unterschiedlichen Blickrichtungen liegt ihnen doch gemeinsam zugrunde, daß der Zirkusartist als der gesellschaftlichen Norm entgegengesetzt begriffen wird. Selbst da, wo er, wie von Zuckmayer, als ein in die Gegenwart reichender Typus von Rechtschaffenheit und Solidität erfasst wird, ist der Artist in seiner gesellschaftlichen Rolle ein Außenseiter. Die Zirkusleute des Zirkus Knie sind bodenständiger als der Grundbesitzer. Das ist im Grunde paradox. Nur: wenn diejenigen im Lande, denen die Unstetigkeit gleichsam auf ihren Fahnen geschrieben steht, sich als die der Tradition bewußteren Zeitgenossen entpuppen, dann will Zuckmayer damit ein warnendes Signal setzen. Und zwar dahingehend, daß eben dieses Traditionsbewußtsein seinen Wert hat.
Mit dem Blick auf
das Entgegengesetzte verschärft sich stets die Wahrnehmung des Eigentlichen. Die Wahrnehmung soziokultureller Strukturen wird dabei mitunter getrübt durch das romantische Bild eines freien und
mit sich selbst zufriedenen Artisten. So scheitert die Wahrnehmung des Eigentlichen am Zerrbild des Entgegengesetzten.
Es gibt allerdings keine einheitliche literarische Tradition des Zirkusmotivs. Jones sieht im Zirkusmotiv eine Variante von Unterhaltungskultur, die - und da beruft er sich auf Benjamin, Bloch
und Adorno/Horkheimer (1) - innerhalb der gehobenen Kunst zunehmend Raum greift. Er versteht diese Entwicklung als ein Aufbrechen der Dichotomie von hoher und niedriger Kunst. Intertextuelle
Aspekte der Zirkusmotive werden nicht gewürdigt. Jones' Methode geht über einen literatursoziologischen Ansatz kaum hinaus.
Die inhaltliche
Verwendung des Zirkusmotivs ist, wie ich in meiner Arbeit dargestellt habe, sehr weit gestreut.
Das hängt damit zusammen, daß das Bild vom Artisten sich nicht eindeutig festlegen läßt, was aber wiederum gerade einen Reiz auf die Schriftsteller ausübt. Zirkus ist in seiner Zusammenstellung
eine Mischung vieler Elemente, die sich aus einer Spannbreite zwischen Sport und poetischer Clownerie herleitet.
Die Faszination und die Ablehnung des Zirkus sind in ein und derselben Ursache begründet. Es ist die kaum zu lösende Frage, ob Zirkus Kunst ist oder nicht. Im Zirkus werden zweifelsohne enorme
Leistungen gezeigt, und das nicht nur auf dem Gebiet der Körperbeherrschung. Auch überdurchschnittliche mentale Fähigkeiten sind bei einigen Artisten vorhanden, wie beispielsweise bei Zauberern,
wo jedoch eine körperliche Geschicklichkeit (Prestidigitateur = Schnellfingerkünstler) stets hinzukommt und die beiden Bereiche vom Zuschauer nicht zu trennen sind. Es drängt sich die nicht zu
unrecht gestellte Frage auf, inwieweit solche Fähigkeiten, die als rein mentale Überlegenheit ausgegeben werden, am Ende nicht nur Scharlatanerie sind. Die Wirkung jedenfalls, die solche
Fähigkeiten auf das Publikum ausüben, ist groß: die Gefahr der Mystifizierung also stets vorhanden.
Für Jörn Merkert ist Zirkus Kunst, und zwar:
"ganz gewiß keine
künstliche, sondern eine der ganz wenigen, die nicht allein dem Schein sei es dem schönen, dem trügerischen oder dem utopischen Vorschein angehört, sondern der Realität." (2)
Merkert beruft sich auf Blochs Äußerung in "Das Prinzip Hoffnung", daß der Zirkus "die einzige, bis auf den Grund ehrliche Darbietung" sei, "die die Kunst kennt"(3).
Aufgrund dieser Prämisse, ordnet Merkert die literarische Behandlung des Zirkus der eigentlichen "Cirkus-Kunst" nach:
"Solch poetische
Sehweise der Circuswelt ist also in sich schon auch eine künstlich überhöhte. Indem Kunst sich des Circus als Vorwurf von Welt, als Bild, bedient, wird die circensische Gegenwelt, die ja in sich
schon Kunst und damit eine überhöhte ist, ein zusätzliches Mal von der Wirklichkeit abgehoben." (4)
Erstens verwickelt sich Merkert in Widersprüche, die für Reflexionen über Zirkus gar nicht untypisch sind. Einerseits sei Zirkus Realität, andererseits sei er "überhöhte Wirklichkeit". Die
Wahrheit liegt wohl in der Mitte, denn im Zirkus sind reale körperliche Leistungen und trügerischer Schein sehr eng miteinander verbunden.
Zweitens traut Merkert den Schriftstellern nicht zu, daß sie, wenn es sich denn schon um eine "überhöhte Wirklichkeit" im Zirkus handelt, die Differenz zwischen dieser Überhöhung und der Realität
zu thematisieren imstande sind. Merkert zufolge setzen die Schriftsteller der vorgefundenen künstlichen Überhöhung noch eine weitere obendrauf. Übrigens nennt Merkert wenige Seiten später die
Autoren, die er meint: Rilke, Thomas Mann und Kafka. Die Schriftsteller würden nämlich sich und ihre Situation in den Artisten, in diesen "out-casts" wiedererkennen. Diese
Wiedererkennungs-Theorie ist nicht grundsätzlich falsch, doch erkennen sich gerade die genannten Autoren nicht so sehr in ihrer Außenseiterrolle wieder, sondern sie sehen im Zirkus ein Phänomen
deutlich zutage treten, daß auch auf die eigene Kunstausübung zutrifft: jene für die Moderne bezeichnende "kunstpraktische Monomanie"(5), die eine Kommunikation mit dem Publikum ausschließt. Dies
trifft jedenfalls neben Rilke und Kafka auch für Heym, Bernhard und Burger zu.
Bei Thomas Mann liegt die Motivation, auf die Zirkussphäre zurückzugreifen, eher darin, in eine bürgerliche Tabu-Zone einzudringen, in der erotische Phantasien blühen dürfen. Das Tabu besteht für
Thomas Mann weniger im Zirkus an sich, sondern wird erst konstituert durch die Verbindung mit der Kriminalität (Faschismus, Hochstapelei).
Wedekinds Zirkusbegeisterung ist sicher zum einen als Provokation der bürgerlichen Geistes-Kultur gedacht. Andererseits versuchte Wedekind, dem Naturalismus seiner Zeit eine andere Kunstform
entgegenzusetzen.
Zirkus kommt der theatralischen Darstellungsform sehr nahe. So beeinflußte der Zirkus noch in den zwanziger Jahren einige Theaterleute sehr stark. Besonders die Theaterreformer, die ein neues,
stark stilisiertes Theater propagierten, griffen circensische Darstellungsmittel auf. Der Bauhaus-Künstler Walter Gropius, der die "Zeichen" der Zeit - Abstraktion und Mechanisierung - auf das
Theater übertragen möchte, schreibt beispielsweise:
"Teilweise
Überwindung des Körperlichen, jedoch nur im Bereich des Organischen, ermöglicht die Akrobatik; der 'Schlangenmensch' der gebrochenen Glieder, die lebende Luftgeometrie am Trapez, die Pyramiden
aus Körpern.
Das Bestreben, den Menschen aus seiner Gebundenheit zu lösen und seine Bewegungsfreiheit über das natürliche Maß zu steigern, setzte an Stelle des Organismus die mechanische Kunstfigur: Automat
und Marionette. Dieser hat Heinrich v. Kleist, jenem E.T.A. Hoffmann Hymnen gesungen." (6)
Lazlo Moholy-Nagy forderte programmatisch eine "GESAMTBÜHNENAKTION", in der ein "großer, dynamisch-rhythmischer Gestaltungsvorgang" (7) vonstatten geht.
"Der heutige
ZIRKUS, die OPERETTE, VARIETÉ, amerikanische und andere CLOWNERIE (Chaplin, Fratinelli) haben in dieser Hinsicht und in der Ausschaltung des Subjektiven - wenn auch naiv, äußerlich - Bestes
geleistet, und es wäre oberflächlich, die großen Schaustellungen und Aktionen dieser Gattung mit dem Worte 'Kitsch' abzutun. Es ist gut, ein für allemal festzustellen, daß die so verachtete Masse
- trotz ihrer 'akademischen Rückständigkeit' - oft die gesundesten Instinkte und Wünsche äußert. Unsere Aufgabe bleibt immer das schöpferische Erfassen der wahren und nicht der vorgestellten
(scheinbaren) Bedürfnisse." (8)
Oskar Schlemmer schrieb ein Ballettstück "Varieté", in dem Musik-Clowns in geometrisierten Kostümen auftreten sollten. (9)
In all diesen Reformbestrebungen drückt sich die Absicht aus, "von der Literatur unabhängige Kunstformen" (10) zu entwickeln.
Auch Hugo von Hofmannsthal gehört mit seiner Vorliebe für die schweigenden Künste zu den Zweiflern an Sprache und Literatur.
Einen starken Einfluß auf die Schriftsteller der Moderne hatte Nietzsches Skeptizismus. Daß die Poeten doch nur Possenreiter sind - und lügen, diese mögliche Wahrheit ist in der Moderne stets
präsent.
Nun ist ja der Begriff der "Moderne" seinerseits sehr schwammig. (11) Man kann aber festhalten, daß der verlorene Wahrheitsanspruch der Kunst ein gemeinsames Kennzeichen jener Moderne ist. Peter Bürger führt dies auf Hegels Reflexionen über das Ende Kunst zurück:
"In den
Abschnitten über die Auflösung der romantischen Kunst entwirft Hegel nämlich einen Begriff der Kunst, der diese gerade nicht mehr an einen emphatischen Wahrheitsbegriff bindet, vielmehr sieht er
am Beispiel der holländischen Malerei einen Typus von Kunst sich entwickeln, die den Schein selbst zum eigentlichen Gegenstand ihres Interesses macht. Hegels vieldiskutiertes Wort vom Ende der
Kunst läßt sich mit Fug dahingehend interpretieren, die Kunst in der Moderne verliere tendenziell die Möglichkeit, den substantiellen Gehalt der Epoche zu fassen. (12)
Hegel führt aus, wie sich die romantischen Künstler dem schönen Schein der Oberfläche verschreiben:
"Was uns reizen
soll, ist nicht der Inhalt und seine Realität, sondern das in Rücksicht auf den Gegenstand ganz interesselose Scheinen. Vom Schönen wird gleichsam das Scheinen als solches für sich fixiert, und
die Kunst ist die Meisterschaft in Darstellung aller Geheimnisse des sich in sich vertiefenden Scheinens der äußeren Erscheinungen. (13)
Während Hegel in dieser Entwicklung die Auflösung und das Ende der Kunst sieht, verlangt Nietzsche ein Bekenntnis zum Schein. Die Dichter wissen wohl, daß sie lügen - und sie bleiben trotzdem
Dichter. Nietzsche zieht die Possenreiter-Rolle dem Fach der Artistik vor.
Das Laborieren am Schein, wie es Hegel beschrieben hat, wird auch von Bernhard thematisiert. In seinen Texten hat diese "monomanische Kunstpraxis" den Effekt des Kommunikationsverlustes. Burger
beschreibt diesen Formalismus, indem er die Sprache bis fast zur Unkenntlichkeit verzerrt.
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(1) Jones sieht in diesen "Neomarxist philosopher/critics" (Jones, a.a.O., S. 14) Fürsprecher populärer Massenkunst. Dies trifft auf Bloch sicherlich zu, ist im Falle Benjamins und besonders Adornos aber nicht haltbar.
(2) Merkert, Über die Circus-Kunst; in: Zirkus Circus Cirque, a.a.O., S. 6
(3) Bloch, a.a.O., Band 5/1, S. 422
(4) Merkert, Über die Circus-Kunst, a.a.O., S. 7
(5) Vgl. Anmerkung 34 des Kapitels "Dressurakte" dieser Arbeit
(6) Oskar Schlemmer, Mensch und Kunstfigur (1925); zitiert nach: Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert, a.a.O., S. 149
(7) Moholy-Nagy, Theater, Zirkus, Varieté (1925); zit. nach: Brauneck, a.a.O., S. 158 f.
(8) Moholy-Nagy, ebda.
(9) Vgl. Magda Holbein, Der Circus und das Theater des 20. Jahrhunderts; in: Zirkus Circus Cirque, a.a.O., S. 224 - 238
(10) Magda Holbein, Der Circus und das Theater des 20. Jahrhunderts, a.a.O., S. 230. Holbein führt aus, das die Theaterreformen der Bauhauskünstler dahin zielten, den Naturalismus des Theaters zu überwinden.
(11) "In der Tat ist der Modernebegriff ein vielschichtiges Konstrukt. Zwar ist er eindeutig auf eine Epoche bezogen (mit freilich sehr unterschiedlichen Grenzen), aber er meint keineswegs die Gesamtheit der in der Epoche produzierten literarisch anspruchsvollen Werke. Er ist also weder ein reiner Epochenbegriff noch ein rein normativer, sondern beides zugleich." (Peter Bürger, Prosa der Moderne, a.a.O., S. 442)
(12) Bürger, Prosa der Moderne, a.a.O., S. 34
(13) Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, a.a.O., Band II, S. 226