3. Kapitel: Erbarmungslose Perfektion

Rainer Maria Rilke/Franz Kafka

Im Mittelpunkt der Texte Rilkes und Kafkas stehen Artisten, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn befinden (ausgenommen Kafkas letzter Text "Ein Hungerkünstler"). Genau an diesem Punkt erweist sich aber auch die Fragwürdigkeit ihrer Existenz.
Hinter den Schilderungen in Rainer Maria Rilkes fünfter Duineser Elegie steht Picassos Gemälde "Les Saltimbanques", welches im Hause Hertha Königs hing, zur Zeit als Rilke sich dort 1915 aufhielt. Picassos Bild bezieht sich auf die Gauklertruppe Père Rollins, die 1907 im Jardin du Luxembourg von Paris auftrat. Diesen Auftritt hatte auch Rilke gesehen; er inspirierte ihn zunächst zu einer spontanen Notiz und zu dem Gedicht "Die Gruppe". (1) Ähnlich wie bei Kafka liegen den Texten Rilkes eigene Beobachtungen von Artisten zugrunde. Das Erlebnis leibhaftiger Artisten hat bei Rilke einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, wie einem fast sieben Jahre später geschriebenen Brief zu entnehmen ist:



"(...) - Und so sind also auch die 'Saltimbanques' da, die mich eigentlich schon seit der allerersten Pariser Zeit so unbedingt angingen und mir immer seither aufgegeben waren." (2)
Rilkes unmittelbare Reaktionen auf Père Rollins Truppe, also die Notiz "Saltimbanques"(3), ein Brief an Dora Heidrich-Herxheimer mit den gleichen Schilderungen, nur etwas knapper(4), und das kurze Gedicht "Die Gruppe" (5) beschreiben das Erlebte, ohne eine Wertung vorzunehmen. Erst in der Fünften Duineser Elegie reflektiert Rilke die Situation der Artisten und thematisiert das sinnlose Dasein der Artisten, das sich hinter den akrobatischen Meisterleistungen verbirgt.


Franz Kafka besaß intimste Kenntnisse der Zirkus- und Varietékunst. Hartmut Binder hat dies in einer detaillierten Materialsammlung dokumentiert. (6) Bauer-Wabnegg stüzt sich vorwiegend auf dieses Material und schreibt dazu:

"Aufgrund einer Postkarte an Max Brod von Anfang Dezember 1917 darf man vermuten, daß er mehr oder minder regelmäßig mindestens zwei einschlägige Zeitschriften gelesen hat: den 'Artist. Central-Or­gan des Circus, der Variétébühnen, reisenden Kapellen und Ensembles', Düsseldorf 1883 ff., und dessen österreichisches Konkurrenzblatt 'Proscenium'. Verschiedene Referenzen belegen, daß er genaueste Detailkenntnisse zu diesem Themenkomplex besessen hat; sicherlich zum Teil aufgrund der Lektüre genannter Blätter, zum Teil aber auch aufgrund des Besuchs entsprechender Veranstaltungen." (7)
Das Zirkusthema verteilt sich über das gesamte Werk Kafkas und zwar auf weit mehr Texte, als hier behandelt werden. Zu Kafkas Quellen, zur Deutung des Artistenmotivs im Rahmen der damaligen Entwicklung neuer Kommunikationsmittel sowie unter Berücksichtigung des Körper-Geist-Komplexes gibt die Dissertation von Bauer-Wabnegg ausführliche Informationen. Da innerhalb dieser Arbeit die Ergebnisse von Bauer-Wabnegg nicht noch einmal zusammengefasst werden sollen, beschränke ich mich bei meiner Interpretation ganz besonders auf den Aspekt des Scheins, wie er in den Artistenerzählungen Kafkas thematisiert wird.
Was Heinz Ladendorf bezüglich Kafkas Erzählung "Auf der Galerie" geschrieben hat, nämlich daß dort

"Lüge und Leid, Schönheit und greller Kitsch so erschreckend dicht zusammengezwungen sind als eine unauflösliche und allgegenwärtig quälende Unwahrhaftigkeit, als ein Bild der Trauer des Lebens"(8),
kann für sämtliche Texte Kafkas gelten, in denen Zirkus und Artisten auftauchen. Das Thema des Scheins steht in seinen Texten im Mittelpunkt. Die gegenseitige Durchdringung von realer Welt und der Scheinwelt, die ein Differenzieren unmöglich macht, sind die Ursache für die existenzielle Bedrängung, die die Protagonisten erfahren.

 

Rainer Maria Rilke: "Fünfte Duineser Elegie"



Die Gaukler in der Fünften Duineser Elegie verkörpern die entwurzelte Existenz schlechthin. Dies aber nicht nur äußerlich, weil sie die "Fahrenden" sind, sondern auch ihr Wesen ist geprägt von Leid, Leere und Sinnlosigkeit. Ihr ganzes Tun wird bestimmt von einem fremden Willen:



                "(...) von früh an
wringt ein wem - wem zuliebe
niemals zufriedener Wille? Sondern er wringt sie,
biegt sie, schlingt sie und schwingt sie,
wirft sie und fängt sie zurück; (...)" (9)
Der Teppich, auf dem sie ihre Kunststücke darbieten, wird "von ihrem ewigen Aufsprung" immer dünner. Als Realie wird dieser Teppich schon in der Aufzeichnung "Saltimbanques" von 1914 erwähnt. Hier wird er zusätzlich noch als "verlorener Teppich im Weltall" zum Symbol der unsicheren Existenz. Auch als "Pflaster" dient er dazu, eine offene Wunde zu überdecken. Es deutet sich also schon gleich in den ersten Bildern an, daß sich die Kunst der Akrobaten an einem metaphysischen Abgrund abspielt.
Die Metapher der "Scheinfrucht" in der nächsten Strophe



"geht darauf hinaus, die Kunst dieser Artisten als unechte, als Scheinkunst zu kennzeichnen: zweimal wird das Wort 'Schein' gebraucht - Scheinfrucht, scheinlächelnde - (..)" (10)
In den folgenden Versen wird der alte Trommler - auch er wieder eine real beobachtete Person - kontrastiert mit dem kraftstrotzenden jungen Mann,



"als wär er der Sohn eines Nackens
und einer Nonne: prall und stämmig erfüllt
mit Muskeln und Einfalt."

In der Nonne vereint sich Askese und einfältige Kraft zu einem grotesken Bild. Diese Figuren sind das "Spielzeug" des "Leids", gleichsam Spielbälle eines sinnlosen Schicksals.
In der folgenden Strophe wird die sich ewig wiederholende Tätigkeit der Artisten beschrieben, die dennoch kein Ziel besitzt. Als noch unreife Früchte fallen sie gleich der Verwesung anheim. Unterbrochen wird diese Metaphorik nur durch den versuchten Blickkontakt zu einer "zärtlich selten Mutter". Doch die Kommunikation bleibt aus, der antwortende Blick verliert sich an den Körper. Er kann die Äußerlichkeit des Körpers nicht durchdringen. Die Isolation des Artisten kommt in "rasch in die Augen gejagten leiblichen Tränen" zum Ausdruck. Nur unter diesen Tränen hervorgebracht "blindlings, ein Lächeln...", das aber mehr einem zum Geschäft zugehörigen blendenden Lächeln ähnelt, denn einer wahren inneren Rührung.
Dieses Lächeln, auch wenn es "blindlings" ist, soll dem Engel anvertraut werden. Wie ein "Heilkraut" soll der Engel es verwahren. Auf dem Gefäß soll stehen: "Subrisio Saltat.", das Lächeln des Springers(11)



Die nächste Strophe beschreibt die weibliche Akrobatin. Sie ist zwar schön, ihre Schönheit wird dennoch nicht wahrgenommen, stattdessen der Glitter ihrer Kleidung:



                "(...) Vielleicht sind
deine Fransen glücklich für dich -,
oder über den jungen Brüsten die grüne metallene Seide (...)"

Sodann folgen Reflexionen über die Kunst der Akrobaten. Das lyrische Ich fragt nach dem Ort, wo diese Kunst noch nicht so perfektioniert war. Der jetzige Anblick erinnere an "sich bespringende, nicht recht paarige Tiere", ein Bild, das bei aller inhärenten Erotik doch von Sinnlosigkeit geprägt ist. Oder wie es in der nächsten Strophe heißt:



"Wo die vielstellige Rechnung
zahlenlos aufgeht"

- das heißt, ohne Ergebnis bleibt. Absolute Perfektion in der Ausführung macht die ganze Mühe, die dazu notwendig war, zunichte. Jean Starobinski faßt sehr treffend zusammen:



"Offenbar ist für Rilke der Sprung von der Ungeschicklichkeit zur akrobatischen Gewandtheit nur der Übergang von einem reinen Zuwenig zu einem leeren Zuviel, das akrobatische Meisterstück gehaltloses Können: die großartige Errungenschaft - ein lächerlicher Triumph." (12)

Mit Einführung der Figur der "Madame Lamort" (der Tod) in der nächsten Strophe verläßt Rilke den Schauplatz der Akrobaten. Eine Verbindung besteht trotzdem: Die Artikel der Modistin sind alle "unwahr gefärbt" und somit genauso unecht wie die Kunst der Akrobaten.
Eine Erlösung aus ihrem sinnlosen Dasein gibt es nur auf einem hypothetischen, transzendenten Schauplatz, den Rilke in der letzten Strophe vorstellt. Diesen Platz gebe es, würde man sich die Artisten als Liebende denken. Für Liebende gibt es aber keine Perfektion, und als Liebende müßten sie sich dies eingestehen. Dann wä­ren die Münzen der Zu­schauer andere, nämlich solche, "die wir nicht kennen, ewig gültige(n) Münzen".
Der schöne, aber unechte Schein der Artistenkunst täuscht eine Möglichkeit von Glück vor, die nur im Irrealen erlangt werden kann. Dort aber nur, wenn nicht wie in der irdischen Kunst der Artisten eine unbarmherzige Perfektion verlangt wird.

 

Franz Kafka: Zirkus- und Varietémenschen



In der kurzen, aus zwei Sätzen bestehenden Erzählung "Auf der Galerie" werden zwei Variationen einer Wirklichkeit geschildert. Im ersten Satz, eingeleitet durch "Wenn..." (13)wird die Version einer brutalen Realität ge­schildert. Die kranke Kunstreiterin wird von einem "peitschenschwingendem erbarmungslosen Chef" pausenlos umhergetrieben, angestachelt von einem "unermüdlichen Publikum". Wäre dies die Realität, so hätte der Galeriebesucher dem brutalen Treiben durch sein Eingreifen ein Ende bereitet. "Da es aber nicht so ist ..." beginnt der zweite Satz, und es folgt die Beschreibung der erfolgsverwöhnten, vom Publikum in ihrer Leistung verstandenen Kunstreiterin, verfällt der Galeriebesucher in tatenlose Resignation. (14)
"- da dies so ist,..." heißt es gegen Ende im zweiten Satz, suggeriert, es handle sich bei dieser Darstellung um die Beschreibung der Realität. 
Jones hingegen interpretiert:



"The second half, despite the indicative mood, also becomes reversed and is seen thus as pure Schein. If the first half is really the case, the second half is only an act." (15)
Diese scharfe Trennung in Scheinwelt und Realität ist meines Erachtens, und hiermit stimme ich mit Naomi Ritter überein, nicht zu machen:



"One might even argue that the first scene is more real, in the sense of essential, or true, than the second. Then the subject of the piece would fall easily into the category of reality versus illusion. But this interpretation must be false, for neither scene is clearly illusory. Both visions are real in different ways; the ultimate reality which must contain contradictions, remains uncertain." (16)
Naomi Ritter sieht überdies sogar in Kafkas Erzählung eine Parodie auf Wedekinds Essay "Zirkusgedanken", zumal beide Texte aus zwei langen Sätzen bestehen. Während Wedekind von den Vorgängen in der Manege entzückt ist, stelle Kafka die Gefahr der Scheinwelt im Zirkus dar. (17)
In Kafkas Artistengeschichten wird stets unterschieden zwischen der Institution des Zirkus und der Artisten selbst. (18) Verantwortlich für die miserablen Situationen der Artisten ist aber mitnichten der Zirkusdirektor, sondern die gesamte Institution des Zirkus, aus der es kein Entkommen gibt. In der Erzählung "Erstes Leid" kommt der Impressario dem vom Trapezkünstler anscheinend lange insgeheim gehegten Wunsch nach einem zweiten Trapez nach. Damit löst er aber erst die Trauer des Artisten aus.



"Ein Trapezkünstler (...) hatte, zuerst nur aus dem Streben nach Vervollkommnung, später auch aus tyrannisch gewordener Gewohnheit sein Leben derart eingerichtet, daß er, solange er im gleichen Unternehmen arbeitete, Tag und Nacht auf dem Trapez blieb." (19)
Das Angebot des Impressario, ein zweites Trapez zu beschaffen, macht die Situation für den Trapezkünstler  in ihrer Aussichtslosigkeit bewußt. Die Perfektion in der Kunst mußte der Artist mit einer lebenslänglichen Hingabe an die Kunst und die Institution bezahlen. Trapezkünstler rufen die Erinnerung an einen alten Menschheitstraum wach: fliegen zu können. Was in der täglichen Arbeit volle Konzentration auf die zu koordinierenden Bewegungsabläufe ist, wird für den Zuschauer zur Allegorie der Freiheit, nämlich der mit Leichtigkeit überwundenen Schwerkraft. (20) Aus dem Zirkus gibt es für den Artisten aber kein Entkommen. Die symbolisch dargestellte Freiheit erweist sich für den Artisten als existenzbedrohender Trug.
Existenzbedrohung durch Institutionalisierung der Kunst ist auch zentrales Thema in der Novelle "Ein Hungerkünstler". In der Einleitung zur Novelle, in der es nicht um einen besonderen Hungerkünstler (21) geht, sondern um den Hungerkünstler im Allgemeinen - eine Erzählhaltung, die dann aber rasch in die Schilderung eines individuellen Falles übergeht - heißt es:



"Während es sich früher gut lohnte, große deratige Vorführungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich" (22)
Nun folgt die Beschreibung des Künstlerdasein in eben jenen guten, aber vergangenen Zeiten. Die Kommunikation mit dem Publikum funktionierte recht gut, die Leistung des Hungerkünstlers wurde als solche anerkannt. Eine kleine Bemerkung weist eine deutliche Beziehung zum weinenden Besucher in "Auf der Galerie" auf. Im "Hungerkünstler" ist es eine aus dem Publikum kommende Dame, die das "Ehrenamt" ausübte, nach Beendigung der Fastenzeit den Künstler zu stützen, damit er dem Publikum präsentiert werden kann. Sie bricht "unter dem Gelächter des Saales in Weinen" aus und wird von einem "längst bereitgestellten Diener abgelöst". Auffällig ist die spontane und nicht die des Publikums entsprechende Reaktion. Was aber noch befremdender wirken muß, ist die Tatsache, daß dieser Vorfall eingeplant ist, da ja bereits ein Ersatz zur Stelle ist. Kafka klärt den Leser an dieser Stelle nicht auf, ob es sich um eine wirklich spontane und nicht gespielte Reaktion handelt, oder ob dies nicht nur ein Trick des Impressarios ist, mit Hilfe eines engagierten Zuschauers, die Wirkung der Vorführung zu verstärken.
So heißt es denn auch, daß der Hungerkünstler - selbst noch in der Zeit, als er vom Publikum beachtet wurde - in einem "scheinbaren Glanz" lebte. Doch im Gegensatz zum Trapezkünstler, lebte der Hungerkünstler schon vor dem Umschwung 
(23) eine traurige Existenz. In "Ein Hunger­künstler" wird weiter ausgeführt, was in "Erstes Leid" nur angedeutet wurde. Die Situation ist aber umso bedrohlicher, weil die Kunst des Hungerkünstlers unter einem negativem Vorzeichen ausgeübt wird. Anstelle der körperlichen Vervollkommnung und Grazie tritt, gleichwohl nach demselbem Prinzip der Perfektion, die körperliche Verstümmelung. Beide Versionen, die der kraftvollen und ästhetisch schönen Körperarbeit sowie die der kräfteentziehenden, zum häßlichen physischen Wrack hinführenden Körperarbeit, sind im Zirkus nebeneinander betriebene Sparten. Sie sind aber nicht völlig voneinander zu trennen, wie schon die Kontrastierung der kranken und der schönen Kunstreiterin in "Auf der Galerie" zeigt. Der von der Institution Zirkus aufrecht erhaltene schöne Schein amalgamisiert beides zu einem ästhetischen Genuß für den Zuschauer.
Erst die Verbannung des Hungerkünstlers an die Peripherie des Zirkus - man besucht ihn in den Vorstellungspausen des Programms - läßt die tatsächliche Grausamkeit offenbar werden. Da sich der Künstler durchaus an die circensischen Prinzipien wie "das hohe Streben, den guten Willen, die große Selbstverleugnung" (24) gehalten hat, wird mit dem Tod des Hungerkünstlers gleichsam die gesamte Zirkus- und Artistenwelt obsolet.
An die Stelle des Hungerkünstlers kommt ein junger Panther in den Käfig. Dieses Raubtier stellt freilich eine bessere Attraktion als der hungernde Mensch dar. Letzten Endes hat sich das mehr vitalistische Prinzip durchgesetzt. Wobei es Kafka offenläßt, ob hier das Publikum nicht genauso betrogen wird, weil es seine Freiheitsträume an ein wildes Tier heftet, das seinerseits die eigene Freiheit nur scheinbar vermißt (25), im Grunde aber gefangen ist.
Um das Problem vermeintlicher Freiheit geht es auch in "Ein Bericht für eine Akademie". Der Affe Rotpeter, der die Evolution zum Menschengeschlecht gewissermaßen in einer fünfjährigen Sozialisierungsphase nachholt, hat sich mit seiner Unfreiheit arrangiert. Unter den Menschen ist Freiheit ohnehin nicht zu finden, eine Erfahrung, die er in erster Linie im Varietémilieu machte:

"Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzuoft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten. Oft habe ich in den Varietés vor meinem Auftreten irgendein Künstlerpaar oben an der Decke an Trapezen hantieren sehen. Sie schwangen sich, sie schaukelten, sie sprangen, sie schwebten einander in die Arme, einer trug den anderen an den Haaren im Gebiß. 'Auch das ist Menschenfreiheit', dachte ich 'selbstherrliche Bewegung.' Du Verspottung der heiligen Natur! Kein Bau würde standhalten vor dem Gelächter des Affentums bei diesem Anblick." (26)

Die Existenz als Varietékünstler betrachtet Rotpeter als das kleinste Übel, das sich ihm unter den verbleibenden Möglichkeiten nach seiner Ergreifung im Urwald anbot. Ein Fluchtversuch wäre tödlich verlaufen, also blieb ihm nur ein "Ausweg", nämlich die perfekte Anpassung: Mimesis der Menschenwelt. Rotpeter gibt aber in seinem Bericht vor, obwohl er keine andere Wahl hatte, seinen Lebensweg und die in Aussicht stehende Karriere durchaus schon sehr früh freiwillig forciert zu haben:

"Als ich in Hamburg dem ersten Dresseur übergeben wurde, erkannte ich bald die zwei Möglichkeiten, die mir offenstanden: Zoologischer Garten oder Varieté. Ich zögerte nicht. Ich sagte mir: setze alle Kraft an, um ins Varieté zu kommen; das ist der Ausweg; Zoologischer Garten ist nur ein neuer Gitterkäfig; kommst du in ihn, bist du verloren." (27)

Rotpeter drehte in seiner Vorstellung das Prinzip der Dressur um, denn als freiwillig Dressierter - mit den damit verbundenen herausragenden Ergebnissen (28) - ist er dem Dompteur ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen, denn der Dompteur ahnt ja kaum etwas von der freiwilligen Mitarbeit des Affen. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere folgt ihm gar der Impressario aufs Wort. Zufrieden ist Rotpeter mit seiner Situation keineswegs:

"Überblicke ich meine Entwicklung und ihr bisheriges Ziel, so klage ich weder, noch bin ich zufrieden." (29)

So bleibt auch in "Ein Bericht für eine Akademie", den man auch als Persiflage auf die Hagenbeck'sche "zahme Dressur" lesen kann, der Zirkus letztlich Zirkus, das heißt, eine Institution aus deren Mechanismen man nicht entkommen kann, weil sie selbst reformistische Bestrebungen aufhebt. Die "zahme Dressur" ist somit nur ein weiters Mittel, den schönen Schein der Zirkuswelt aufrecht zu erhalten, indem die Grausamkeit der Tierdressur, wie sie im irrsinngen Blick des "verwirrten dressierten Tieres" (30) der Partnerin Rotpeters aufscheint, verschleiert wird.

 

 

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Anmerkungen zum 3.Kapitel

(1) Dieser Sachverhalt ist in der Rilke-Literatur aus­führlich dokumentiert: z.B. in den Anmerkungen zu Rilkes Aufzeichnung "Saltimbanques"; in: Rilke, Sämtliche Werke, Band 6; a.a.O., S. 1514 und in den Anmerkungen zu Rilkes Brief an Lou Andreas Salomé; in: Briefe, Zweiter Band, 1914 - 1926, a.a.O., S. 575. Vgl. auch: Hamburger, Rilke. Eine Einführung, a.a.O., S. 126 f. und Stahl, Rilke-Kommentar zum lyrischen Werk, a.a.O., S. 241

(2) Rilke an Lou Andreas-Salomé vom 19.2.1922; in: Briefe, a.a.O., S. 318

(3) in: Rilke, Sämtliche Werke, Band 6, a.a.O., S. 1137

(4) in: Rilke, Briefe, a.a.O., S. 575

(5) in: Rilke, Sämtliche Werke, Band 1, a.a.O., S. 593

(6) Binder, Kafka. Der Schaffensprozeß, a.a.O., S. 271 - 305

(7) Bauer-Wabnegg, Zirkus und Artisten in Franz Kafkas Werk, a.a.O., S. 10

(8) Ladendorf, Kafka und die Kunstgeschichte; in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch XXIII (1961), S. 304 f. (zitiert nach Heinz Politzer, Franz Kafka. Der Künstler, a.a.O., S. 156)

(9) Rilke, Sämtliche Werke, Band 1, a.a.O., S. 701 - 705. Die nachfolgenden Rilkezitate stammen aus diesem Text, soweit nicht anders vermerkt.

(10) Hamburger, Rilke. Eine Einführung; a.a.O., S. 127 f. Bei der Interpretation orientiere ich mich sehr an den Ausführungen von Hamburger. Ihre Arbeit hält sich in dem für meine Intention ausreichenden engen Rahmen.

(11) So übersetzt von Stahl, Rilke-Kommentar zum lyri­schen Werk; a.a.O. S. 313

(12) Starobinski, Portrait des Künstlers als Gaukler, a.a.O., S. 114

(13) Dieses und die nachfolgen Zitate aus "Auf der Galerie", aus: Kafka, a.a.O., S. 117 f.

(14) Binder, Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, a.a.O., S. 212: "- Da es aber nicht so ist: Der erste Abschnitt ist wahr, aber diese Wahrheit ist nicht erkennbar, weil eine solche Einsicht ein unmögliches Heraustreten aus dem Lebenszusammenhang verlangen würde, der zweite Abschnitt repräsentiert die wahrnehmbare Wirklichkeit, nicht Wahrheit, die im Weinen des Galeriebesuchers ah­nungsweise aufschimmert."

(15) Jones, Art and entertainment, a.a.O., S. 101 "Schein" im Original deutsch und kursiv. "really" ebenfalls im Original kursiv.

(16) Ritter, On the circus-motif in modern german literature, a.a.O., S. 279

(17) Vgl. Ritter, ebda., S. 278

(18) Vgl. Bauer-Wabnegg, a.a.O., S. 10 - 12: Während die Zirkusunternehmen nach ökonomischen Regeln arbeiten, verkörpern die Artisten mit ihrer botschaftslosen und rein auf den eigenen, vom Tauschwert ausgeschlossenen Körperkunst, ein Widerspruch im Ganzen. Dies habe dazu geführt, das die Artisten "monströs erschei­nen".

(19) Kafka, a.a.O., S. 181; Hervorhebung von mir.

(20) Vgl. Bose/Brinkmann, a.a.O., S. 169: "In die Flug­bahn des Artisten schreibt der Be­trachter seine eigenen Wünsche ein, doch nur als Teil eines auratischen Ensembles; ein quid pro quo: 'Während wir in der Zirkuskuppel nur so tun, als könnten wir fliegen, könn­ten wir außerhalb des Zirkuszeltes, wie jedermann weiß, tatsächlich fliegen.' Tatsächlich fliegen!" (Zitat im Zitat von Alexander Kluge, Die Artisten unter der Zir­kus­kuppel: ratlos, München 1968; zitiert nach Bose/Brinkmann)

(21) Es ist aber durchaus möglich, daß Kafka die Anregung zu seiner Erzählung durch den tatsächlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auftretenden Hungerkünstler Dr. Henry Tanner inspiriert wurde. Bauer-Wabnegg verweist zwar auf diesen Hungerkünstler, erkennt ihn aber nicht als gesicherte Quelle an. (vgl. Bauer-Wabnegg, a.a.O., S. 166 f., bes. Anmerk. 113). Der Amerikaner Tanner stellte 1880 mit einer vierzigtägigen (!) Fastenzeit einen Rekord auf. (Vgl. Signor Saltarino, Fahrend Volk, a.a.O., S. 100) Da Kafka ein genauer Kenner der Zirkus- und Varietészene war und in seiner Erzählung den Hungerkünstler ebenfalls vierzig Tage hungern läßt, ist es naheliegend, daß Tanner als Inspiration zum "Hungerkünstler" diente.

(22) Kafka, a.a.O. S. 191 (Hervorhebung von mir.)

(23) sowohl in "Erstes Leid" wie in "Ein Hungerkünstler" gibt es eine einschneidende Veränderung im Leben der Artisten. Der Anschaffung des zweiten Trapezes entspricht formal der nachlassenden Publikumswirkung, die der Hungerkünstler hat.

(24) Kafka, a.a.O., S. 195

(25) "nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen" Kafka, a.a.O., S. 200 (Hervorhebung von mir.)

(26) Kafka, a.a.O., S. 142

(27) Kafka, a.a.O., S. 146

(28) Bauer-Wabnegg hat sehr überzeugend die Quelle zu "Ein Bericht für eine Akademie" nachgewiesen (vgl. Bauer Wabnegg, a.a.O., S. 127 - 151): Im Prager Tagblatt erschien, kurz bevor Kafka seine Erzählung schrieb, ein Bericht über einen dressierten Affen. Außerdem er­schien in der von Kafka gelesenen Zirkusfachzeitschrift "Artist" eine Ab­handlung über "Psychologie und Tierdressur". Bauer-Wabnegg geht aufgrund motivli­cher Übereinstimmung auch davon aus, daß Kafka Carl Hagenbecks Buch "Von Tieren und Menschen" kannte (ein umfangreicher Teilabdruck des Kapitels über Menschen­af­fen erschien 1909 im "Artist"). Da Kafka den Namen Hagenbeck in seiner Erzäh­lung er­wähnt, liegt es nahe, daß er mit dessen Prinzi­pien der "zahmen Dressur" vertraut war.

(29) Kafka, a.a.O., S. 147

(30) ebda.